Stille und Gebet - in Passionszeiten

von Aschermittwoch bis Karfreitag
montags bis freitags

mit Wort und Klang

zwischen 17 und 18 Uhr
im Rhythmus der Glocken

im Blick: Das Hungertuch von Lilian Moreno Sánchez

die Würde der Menschen:
der aufrechte Gang
auf Füßen die tragen
und brechen und heilen
Blumen
hast Du ausgestreut
unbeirrt
mit Narben
und auf Krücken
folgen wir
dieser goldenen Spur… Ricarda Moufang

 

Unsere Füße – gestellt ins W e i t e.
aus Psalm 31

Sieben Wochen, sieben Bilder. Sieben Ausschnitte aus dem Hungertuch von MISEROR und BROT FÜR DIE WELT nehmen wir in den Blick. Gehen ihnen nach. Jede Woche ein Bildausschnitt. Bringen, was wir sehen, mit Geschichten in Verbindung. Und mit Worten und Erfahrungen aus Psalm 31. Es klingt etwas an… Passion und Passionen. Für uns und mit uns. Compassion: Mitleidenschaft und mit Leidenschaft.

Sieben Wochen Stille und Gebet in Passions- und Fastenzeiten. Sieben Wochen das Leben vertiefen. Sieben mal fünf Tage zum Ende der Offenen Kirche und zu Hause: Zeit zum Nach- und Vordenken. Raum zum Sinnen, Besinnen und Ersinnen. Zeit mit Rücksicht und Nachsehen. Unterwegs. Eine Reise nach innen und nach draußen, Jesus nach und vor uns.

Vergesst nicht Freunde, wir reisen gemeinsam.
Rose Ausländer


Stille und Gebet mit Wort und Klang in Passionszeiten mündet an St. Reinoldi in diesem Jahr in der Offenen Kirche am Karsamstag zwischen 21 und 24 Uhr - zu Osternachtszeiten. Wie in den sieben Wochen zuvor: Kommen, gehen oder bleiben im eigenen Rhythmus. „Wer im Dunkeln sitzt, zündet sich einen Traum an. Nelly Sachs

Wenn Sie die täglichen Impulse der Woche oder mehr Infos zum Hungertuch zugeschickt bekommen möchten, – per Mail oder per Post: Wenden Sie sich gerne an Pfarrerin Susanne Karmeier karmeier(at)sanktreinoldi.de | Tel.: 0231. 91 25 337

Wenn Sie sich etwas von der Osternacht nach Hause holen möchten, hören Sie in unser Hörstück mit Karsamstagsklängen und –gedanken. Sie finden es ab dem 3. April, 20 Uhr hier

Palmsonntag/Karwoche – 7. Woche / 29. März-2. April

mit-gehen ...
Vergesst nicht, Freunde - wir reisen gemeinsam
Rose Ausländer

Palmsonntag: „Großer Bahnhof“ für einen, der ankommen will zum Passahfest in Jerusalem, zum Fest der Erinnerung an die große Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten. Damals. „Großer Bahnhof“ füreinen, der ankommen will mit seinen Visionen und Träumen für eine bessere Welt, in der die Güte wohnt und Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Der ankommen will mit seiner guten Nachricht:Das Reich Gottes kommt. Es ist schon angebrochen. Menschen lösen sich vom Straßenrand und laufen ihm entgegen - mit Palmenzweigen und royaler Begrüßung: „Hosianna, dem Sohne Davids…“. Anderefragen, wer das sei. Die Antwort: Jesus von Nazareth!
Man muss sich nicht auskennen im Leben von Jesus. Aber wie es ausgegangen, wie es IHM ergangen ist, ist bekannt: Verlassen, verraten, verurteilt, verleugnet, gefoltert, geschlagen, gekreuzigt. Das sind die Bilder der Passion. Sie bleiben im Gedächtnis. Und manche biblische Redewendung ist geblieben. Am Ende: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Und: „Dein Wille geschehe.“ Und der Schrei: „Warum hast du mich verlassen.“ Er ist nie abgebrochen.

Bis heute kommen Menschen mit ihren Visionen und Träumen für eine besser Welt in den Städten, auf ihren Straße an. Mit eigens beschriebenen Pappen, die wie Palmwedel hochgehalten werden. Begleitet mit eingängigem Sprechgesang. Laut. „Freunde, vergesst nicht, - es ist unsre gemeinsame Welt, die ungeteilte, ach die geteilte.“ (R.A.) Man könnte ihnen entgegenlaufen, mit einstimmen. Aber ….
Auf dem Hungertuch erzählt Lilian Moreno Sánchez, wie es Menschen 2019 mit ihrer Hoffnung auf Leben, auf mehr Gerechtigkeit, auf Gleichheit und Frieden in Santiago de Chile ergangen ist. Auf dem Platz der Würde, wie die Leute ihn nennen: Schlecht! Sehr schlecht! Die Künstlerin malt mit Kohle, Staub und Dreck: Lebenslinien, verheddert, verworren. Einen gebrochenen Fuß, das verwundete Leben. Auf Bettlaken – dem Tuch des Lebens, zerrissen. Die Seele im Staub. Der Körper im Dreck. In den vergangenen Wochen haben wir all das angesehen. Schlagstöcke hat sie nicht gemalt - gemalt hat sie Gold! Einen goldenen Schimmer unterlegt. Hat mit goldenen Fäden Nähte gesetzt – wie Wundnähte zur Heilung. Hat zwölf goldene Blumen gestreut. Vom Platz der Würde ohne Gold zu erzählen, wäre nur die halbe Wahrheit.

Zur Erde gehört der Himmel, zur Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit, zum Geschundenen das Heil-werden, zum Leid die goldene Blume Trost. Im Bild: das ganze Triptychon, drei Teile, die zusammengehören. Der helle Grund. Und weiße Ränder, dazwischen, die alles unterbrechen. Durch die das Hell, das Leben, das Andere hereinbricht wie durch die Ritzen. Die Träume, die Sehnsucht nach Himmel, die Vision und das Engagement „Eine-bessere-Welt-ist-möglich“ sind nie verloren gegangen.

Sechs Wochen lang waren wir unterwegs. Das Hungertuch im Blick. Wandeln haben wir die Vorbereitung genannt. Jetzt kommt das letzte, reale Stück: der Kreuzweg. Unmissverständlich dieser Name: Ungeheuerlich das Erleben der eigenen, der anderen so menschlichen Abgründe. Unerträglich auch die Schuld und die Mit-Schuld. Ein Kreuz, alles in allem. Und die Verborgenheit Gottes - erklärt sich nicht. Ist Gott nicht da? - Dann ist Gott nicht! Die Sätze liegen nah beieinander in Leidenszeiten, wenn Menschen zerbrechen, wenn sie geschunden werden..

„Vergesst nicht, Freunde - wir reisen gemeinsam.“ Der Kreuzweg nimmt seinen Lauf. Karwoche. Klagewoche. Kummertage. Kann ich aussteigen, zurücktreten von dieser Reise? – Ja, jederzeit! Alle, die an der Straße stehen und zuschauen, die können aussteigen, sich umdrehen und weggehen, statt dabei zu bleiben und mitzugehen. - Nein, niemals! All die am Boden liegenden, die gebrochenen Menschen, alle, die es direkt betrifft, die können nicht aussteigen. Passionszeiten – wozu? Um hin zu gucken oder tiefer zu blicken…. Vielleicht um ein Gefühl für Leidende und Leiden, um eine Ahnung vom Anderen zu bekommen. Um näher ran zu rücken. Um zu tun, was man kann - mit allen, die sich bücken, um andere aufzurichten. Wo ist ein Nächster für den geschundenen Menschen? Wer hilft, hilft auf? Wer kann mitgehen?.

Passionszeit ist Tuchfühlung aufnehmen mit dem verwundeten Gott: Wo das Leben verletzt wird, wo du am verletzlichsten bist, bin ich auch.

Judika – 6. Woche / 22.-25. März

Schaffe mir Recht –
Meine Seele liegt im Staube …
Psalm 119,25

Weiße Bettlaken, heller Grund. Darauf Staub von der Straße. Unübersehbar: Dunkle Flecken. Dreck, Schmutzspuren. Dicht neben dem gebrochenen Fuß, dem verwundeten Leben. L. M. Sánchez nahm die Betttücher mit auf den Plaza Italia in Santiago de Chile, auf den Platz der Würde, wie die Leute sagen. Dort, wo 2019 Tausende aufstanden für mehr Gerechtigkeit und mehr Gleichheit in ihrem Land, wo sie los gingen, weil sie wollten, dass sich etwas ändert, wo sie zwischen die Schlagstöcke gerieten, wo 26 Menschen starben, mehr als 4900 verletzt und die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden - dort sammelte die Künstlerin Spuren ein: Spuren des Widerstands, Spuren der Unterdrückung, des Unrechts und des Nicht-Unterkriegen-Lassens. Zog die Tücher durch den Dreck. Rieb den Staub von den Treppengeländern, Steinmauern und Straßen mit beharrlichem Händedruck ins Hungertuch ein. Zur Erinnerung, zum Gedenken. Um den Staub, der sich wie ein lähmender Schleier über das Leben legen kann, wieder aufzuwirbeln und etwas sichtbar zu machen? Das ist der Alltag, noch immer - überall auf der Welt, in Syrien, in Belarus, Myanmar, Jemen, an den Grenzen Europas …. Ein Aufruf? Gebt euch nicht zufrieden. Steht wieder auf. Für das Recht ein. Habt Mitleidenschaft. Lebt mit Leidenschaft. Empört Euch. Widersteht. Hofft und seid laut. Und wenn ihr scheitert, fangt wieder neu an. Vielleicht wollte Lilian Moreno Sánchez uns das nahelegen, vor Augen führen, ins Herz brennen.

Staub und Dreck. Worte für Passionszeiten. Im Staub liegen. Durch den Dreck gezogen werden. Sätze, um das eigene oder andere Leben zu beschreiben, wenn es am Boden liegt. Passionserfahrungen. Die Seele im Staub, der Körper im Dreck. Beides wiegt schwer. Beides lässt sich oft nicht so eben, so leicht wegwischen, beseitigen, bereinigen. „Meine Seele liegt im Staub…“, beklagt ein Mensch sein Leben. Wem will er's klagen, wenn ihn sonst keiner mehr hört? Und wenn und weil man's nicht mehr hören kann? Wer hat dafür ein Ohr? „Schaffe mir Recht“, ruft er Gott zu oder hinterher, und alle ungesagten Sätze dahinter sind mit zu hören: Womit habe ich das verdient? Ergreift keine:r für mich Partei? Wie ungerecht! Und das alles mir! Nimmt mich niemand mehr in Schutz? Warum eigentlich nicht? Und das Recht-Bekommen liegt in der Luft, wie aufgewirbelter Staub – und die Frage nach Gott. „Schaffe mit Recht …“ - wer sonst, wenn nicht DU, Gott, DU – mit Deiner Gnade? Sieh mich an, sieh einmal hin, recht-zeitig. Redet man so mit Gott? Ja, seit biblischen Zeiten.Vor Gott kannst du bitter klagen, kannst ihr Vorwürfe machen, kannst ihn ins Gebet nehmen, zur Rede stellen, sie fordern. Was wird er tun? Wir werden sehn.

Jetzt, wo uns bei jedem Herzschlag
das Schweigen von so viel ungerechten Toten wägt,
jetzt erwache der Engel der Armen,
die überlebende Freundlichkeit der Seele ...
... steige er doch herab,
inmitten der Schatten ...

Guiseppe Ungaretti

Laetare– 5. Woche / 15.-18. März

Jauchzen werde ich, mich freuen –
denn die Blüte ging auf und trug Mandeln
4. Mose 17,23

Zwei Blumen in Gold im Blick - von insgesamt zwölf. Sie nehmen das florale Muster der Bettwäsche auf. L.M. Sanchéz hat sie auf dem Hungertuch verstreut. Wie beiläufig liegen sie da, auf hellem Grund: drei bei den Zehen, drei neben dem Mittelfuß, drei unter der Hacke und drei, die nach oben schweben. Fast wie im Abendlied besungen: die Engelein ... zu meinen Füßen, ... die mich decken, die mich wecken, die mich weisen, zum Himmelsparadeis. Himmlische Kostbarkeiten. Zwölf goldene Blüten auf dem Laken neben dem gebrochenen Fuß und den Goldnähten, zur Genesung. Als wollten sie sagen: Gute Besserung! Man möchte nach ihnen greifen, sie aufheben, sich an ihnen freuen.

Blumen sind eine Freude, so bunt, so verschieden, so üppig im Sommer. „Narzissus und die Tulipan, . . . viel schöner als Salomonis Seide . . .“ singen wir aus vollem Herzen. „... lasset Blumen streuen im Mai, zu Pfingsten aus der Fülle. Und: Seht die eine Rose, wie sie in der kargen Landschaft erblüht, in der Kälte, die Christrose, zur Weihnacht. Blumen sind eine Freude zu jeder Jahreszeit und biblisch immer des Blickes wert: „Seht die Blumen auf den Feldern“, sagt Jesus, „wie sie sich im Wachsen entfalten. Sie mühen sich nicht ab und spinnen kein Kleid. ... und doch kleidet Gott sie, um wie viel mehr euch.“ 12 Blumen aus Blattgold. Erzählen von Kraft, Werde-Kraft, Blühkraft, von der Schönheit neu aufblühenden Lebens. Goldene Blume: Trost. Goldene Blume: Daraus kommt Hoffnung. Goldene Blume: Ich bin da. Goldene Blume: Mitleidenschaft. Niemand wird fallen gelassen. Hingabe. Liebe. Krücke und Bettruhe. Goldene Blume: Aufstand gegen Leid und Tod. Eine andere Welt ist möglich.
Goldene Blume: Heilung am Horizont. Und ….?

Lätare. Freue dich - heißt der 4. Sonntagin der Passionszeit. Lätare ist ein Lichtblick. Eine Freude auf halber Strecke. Eine unerwartete Freude. „Freut euch“, wenn nach trockenen Zeiten der Frühregen fällt und Frieden sich wie ein Strom ausbreitet, sagt ein Mensch in biblischen Zeiten. In kargem Landstrich, zwischen Staub und Steinen: „Jauchzt, denn die Blüte ging auf und trug Mandeln“ - ein Segen und gar nicht selbstverständlich. Eine Freude, die man weder erwartet, noch sofort erkennt. Lätare. Mitten in der Passionszeit …. Goldene Blüten aufheben und sie neben zerbrochenes und verwundetes Leben legen – in unseren Zeiten.

Suche die Blume
auf dem Knochenfeld:
Blühendes Zeugnis
allen Leids.

Ricarda Moufang

Okuli – 4. Woche / 8.-11. März

Meine Augen sehen … stets Menschenkinder.
DU versteckst sie
im Versteck deines Antlitzes
Psalm 31,21

Vierte Woche in Passionszeiten: Vor Augen ein Bild, das es so nicht mehr zu sehen gibt. Es ist längst übermalt. Ein Bild aus der Zeit davor, aus der Werkstatt als die Laken zur Leinwand wurden und wie sie es wurden: Tücher, auseinandergeschnitten, gewaschen, gebügelt und wieder neu übereinander gelegt. Neu zusammengefügt, mit Knicken und Falten, nicht glatt und makellos. Mit Nadel und Faden hat L.M. Sánchez alles  kunstvoll zusammengenäht. Mit sorgsamen Zickzackstich und Fäden aus echtem Gold. So wie Ärzt:innen Wunden nähen, klaffende Wunden in unserer Haut, damit sie heilen können.

Nähte, Zierstiche und Gold? Bergende Falten auf hellem Grund? In Passionszeiten geht´s um Zerreißen eines gewirkten Gewandes, um Nägel und Wunden, die klaffen, um Tränen und abgrundschwere Trauer. Die Künstlerin hat aus Beidem das Hungertuch gemacht: Passionszeiten sind Hunger nach Leben, sind Sehnsucht nach Wandel und Heilung. Manche Wunden heilen nur schwer, reißen immer wieder auf. Und oft bleiben Narben zurück – am Körper oder in der Seele. Eigene Wunden, andere. Die mir zugefügt wurden. Die ich zugefügt habe. Die ich sehe … in Weltzeit.
Woraus kommt Hoffnung? Was macht heil?
Etwas soll sichtbar bleiben und wertvoll werden: Goldene Linien, Goldnähte wie ein Versprechen – eingewoben in Geschichten von Leid, Verwundung und zerrissenem Leben. Auf den ersten Blick – manchmal - kaum wahrzunehmen, leicht zu übersehen. Übermalt. Aber sie bleiben unterlegt für alles danach.

„Meine Augen sehen … Menschenkinder. DU versteckst sie, birgst sie im Versteck deines Antlitzes.“ In den Falten auf hellem Grund? Das Tuch des Lebens, die Kleider des Heils, wie es biblisch heißt, werden im Himmel gewoben und auf Erden genäht. An Nähmaschinen, aus verschiedenen Stoffen, auch aus zerrissenen, verschlissenen. Werden genäht von Menschen vor und neben uns und nach uns. Compassion. Jesus nach und vor uns. Feine Fäden spinnen von mir zu dir, zwischen uns. Und das besondere sind die Nähte mit den Goldfäden: Nackte kleiden, Masken nähen, Liebe schneidern …
Nicht die Wunde, die Zerrissenheit ist glaub-würdig. Eher, dass sie geheilt wird, dass aus Bruchstellen etwas Neues entsteht. Das ist glaub-würdig.

Reminiszere – 3. Woche / 1.-5. März

Erinnere dich, DU, mit deiner Gnade
In deiner Hand sind meine Fristen ...
Psalm 31,16

Textilien erzählen Geschichten. Könnten die Laken, die L.M. Sánchez zur Leinwand gemacht hat, erzählen, es wären hunderte. Von Menschen und Maschinen, die sie herstellten, sie wuschen und bügelten. Von Ängsten und Hoffnungen, die Menschen auf und in diesen Betttüchern durchlebt und erlitten haben. Darauf gemalt ein Fuß, in all seinen Teilen nachgezeichnet. Nicht 26 Knochen und 33 Gelenke, sondern große und kleine Bögen und Linien. Geschwungen, dicht an dicht. Beschwert, leicht, verwickelt, im Fluss. Manche kräftig, andere hauchdünn - als hinge alles am seidenen Faden. Linien wie Fäden. Lebenslinien wie Lebensfäden. Dahinter, darunter, darüber – goldener Schimmer, der helle Grund. Der Himmel?„

Wer mit den Füßen auf der Erde steht, kann mit dem Scheitel den Himmel berühren“, schreibt der Schriftsteller Hans Kudszus.

Reminsizere – Gedenke, erinnere dich …: Wer mit den Augen den Linien folgt, denkt vielleicht: Lebensläufe, Lebenswege in den Blick genommen. Ausladende Bewegungen, enger Radius. Liniensalat – selten nur gerade. Denkt vielleicht an das Hin und Her und Auf und Ab des Lebens. Das sich entwickelt, verändert, verheddert, ins Straucheln bringt, abbricht, weiter geht. Worauf blicke ich zurück? Und wie stehe ich jetzt da? Gebeugt? Gebrochen? Aufrecht? Der Himmel im Blick? Manchmal liegt uns etwas im Magen. Manchmal fühlen wir Schmetterlinge im Bauch und haben Frühlingsluft in der Nase. Sind halsstarrig, arbeiten uns krumm, engagieren uns mit Herz und Hand. Werden von den Füßen geholt. Verzweifeln, vertrauen, wissen nicht weiter.

„Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.“ Emmanuel Levinas

Invocavit– 2. Woche / 22.-26. Februar

Ein Mensch ruft:
Abgeschnitten bin ich
Psalm 31,23

Ein Triptychon – drei Teile, die zusammengehören. Schwarz übermalt – das weiße Tuch. L. Moreno Sánchez nahm das Röntgenbild eines Fußes. Und zeichnete ihn auf. Knochen und Gelenke mehrfach gebrochen und verdreht. Ein Mensch verletzt. 2019 in Santiago de Chile niedergeschlagen durch Staatsgewalt. Beim Protest gegen Unrecht und Ungerechtigkeiten. Wundstelle Leben – sichtbar gemacht. Einer (steht) für alle, die gebrochen und zertreten werden, die unterzugehen drohen und versuchen zu widerstehen. Die Künstlerin malt ihr Bild mitten in der Pandemie. Ein Desaster, das die Situation der Ärmsten und der ohnehin Geschwächten verschärft.

Kräftige Linien, starker Zeichen-Kreide-Strich. Verschlungen, verheddert, verworren - schwarz. Erzählen von Schmerz, Chaos und Leiden. Sind es Schlingen oder Lebenslinien? Werden die eigenen Lebenslinien zu Schlingen? Wo bin ich verflochten in Unrecht? Erfahre selbst Leid? Unverletzlichkeit ist eine Lüge. Niemand entgeht der Wunde. Wir verletzen andere, werden selbst verletzt – am Körper, in der Seele. Röntgenbilder erlauben es, genau hinzuschauen. Nicht weg zu sehen. Eine Diagnose zu stellen. In den Blick nehmen, was ist. Wo schaue ich hin? Werde selbst gesehen? Lasse mich ansehen?

Estomihi – 1. Woche / 17.-19. Februar

Sei mir ein starker Gott -
DU, in Weltzeit

Psalm 31,3

Weiße Bettlaken – mit Blumen und ohne. Die Künstlerin Lilian Moreno Sánchez aus Chile hat sie zur Leinwand gemacht. Und malt darauf vom Leben mit Passion und Passionen. Die Betttücher waren in Gebrauch – in einem Krankenhaus und einem bayerischen Frauenkloster. Orte mit Krankheit und für Heilung an Leib und Seele. Menschen haben sich mit ihnen umhüllt. Haben darin geschlafen, gewacht, gelitten, gehofft, geseufzt und geträumt. Sind darin gestorben oder genesen, blieben versehrt oder wurden gesund, geheilt.

In helle Tücher werden wir gewickelt zu Beginn, nach dem ersten Atemzug. Ein weißes Tuch liegt bereit, wenn wir gestorben sind. Deckt einen Toten zu. Ein ganzes Leben. Und dazwischen tausend Tücher. Auf denen sich Leben entfaltet. Gewaschen, gebleicht, gestopft, zerschlissen, zerrissen, zusammengenäht. Weil sich das Leben eingeschrieben hat. Welche Spuren habe ich schon hinterlassen? Womit und wie bin ich unterwegs? Worauf gehe ich zu?

Weißer Grund. Weiter Raum. Ein weißes Tuch wie ein weißes Blatt, ein unbeschriebenes. Alles auf Anfang gesetzt. Was schreibe ich ein? Was lasse ich einschreiben?

Bilder des Hungertuchs: copyright © MISEREOR
Viele Anregungen, Impulse, Worte verdanken wir den Materialien von MISEREOR.
Ein Projekt von Pfarrerin Susanne Karmeier mit dem Abendgebetsteam an St. Reinoldi | Musiker:innen Manfred Grob, Martina Jasper u.a.